Autonomie statt Autoritarismus

Albrecht Hüttig, Martin Malcherek, Markus Schulze und Frank Steinwachs.

in: „Erziehungskunst“ Okt 2023, S. 38-41, https://www.erziehungskunst.de/artikel/autonomie-statt-autoritarismus. Der wachsende Zuspruch der AfD in Teilen der Gesellschaft sorgt bei vielen Menschen für Sorgen und Entsetzen. Antidemokratische Tendenzen und autoritäre Einstellungen sind eine Gefahr für Gesellschaft und Individuum. Diese Bedrohung sollten wir an Waldorfschulen sehr ernst nehmen, sagen unsere vier Autoren.

Die Demokratie in Deutschland zu entwickeln und zu etablieren, war ein langer und mühsamer Prozess. Die 1848er Revolution, deren 175-jähriges Jubiläum am 18. Mai in der Frankfurter Paulskirche gefeiert wurde, kann als Geburtsstunde angesehen werden. Die Novemberrevolution von 1918 markiert den entscheidenden Schritt, auf den allerdings die NS-Diktatur von 1933 bis 1945 und der de facto diktatorische Ein-Parteien-Staat der DDR von 1949 bis 1989 folgten. Ende der sechziger Jahre kam es dann in der Bundesrepublik zu einer Demokratisierungswelle, Willy Brandts Aussage «Wir wollen mehr Demokratie wagen», steht beispielhaft dafür. Nach dem Mauerfall zeigten sich aber bereits rückwärtsgewandte Tendenzen. Neben der revolutionären Parole «Wir sind das Volk» trat bald der Ausruf «Wir sind ein Volk». Die vermeintlichen (Volks-)Unterschiede von Menschen wurden vielfach betont und vor allem Parteien wie die NPD, die Republikaner und die DVU erhielten großen Zulauf, beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern. Bei der Landtagswahl in Sachsen 2004 erhielt die rechtsextreme NPD 9,4 Prozent, bei Regionalwahlen punktuell deutlich mehr. Ein noch größeres, aber damit untrennbar verbundenes Problem stellte die rechtsradikale Subkultur dar, die ihren Höhepunkt in der «Baseballschlägerzeit» der frühen 1990er Jahre (besonders, aber nicht nur) in Ostdeutschland hatte und sich bis heute auswirkt, wie die dramatischen Zustände in der brandenburgischen Burg zeigen. Dort haben zwei Lehrer:innen rechtsextreme Vorfälle an ihrer Schule angeprangert und wurden als Folge so massiv bedroht, dass sie von dem Ort weggezogen sind.

Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung

Die Wiedervereinigung brachte für viele Menschen in der ehemaligen DDR gravierende Veränderungen, die teilweise auch als Krise empfunden wurden, vor allem der Verlust von Status und Anerkennung und damit der Kontrolle des eigenen Lebens. Für diese Verluste wurde die Nationalität, das «Deutschsein», als Kompensation verwendet. Der AfD ist es gelungen, dieses Gefühl des Verlustes, des Mangels zu bedienen, indem sie behauptet, durch die Betonung des Nationalen den Menschen wieder Anerkennung und die Kontrolle über ihr Leben zu verschaffen. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer bezeichnet dieses Vorgehen der AfD als autoritären Nationalradikalismus, der sich vom Rechtsextremismus dadurch unterscheidet, dass er auf körperliche Gewalt verzichtet. Die autoritäre Haltung vermittele verunsicherten Menschen Sicherheit, die Betonung des Nationalen gebe ihnen Halt.

Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie, die 2020 begann, war eine Krise, in der es am Anfang äußerst schwer war, sich zu orientieren. Die Verunsicherung war extrem. Die Ursache war und ist unsichtbar und das Wissen über Viren und äußerst komplexe medizinische und ökologische Zusammenhänge bei den meisten begrenzt vorhanden. Und auch hier trat bei vielen ein Gefühl des Kontrollverlustes auf, der angesichts der Eingriffe der staatlichen Maßnahmen in die persönliche Freiheit auch im Alltag gegeben war. Viele waren bemüht, die komplizierten Zusammenhänge anhand von ausführlichen Podcasts, differenzierten Zeitungsberichten, Fernsehsendungen und wissenschaftlichen Darstellungen im Internet zu verstehen. Einige fingen auch an, den Wissenschaftler:innen, die die Politiker:innen berieten, ihre Kompetenz abzusprechen. Die Autorität waren in diesem Falle nicht die wissenschaftlichen Expert:innen, sondern die Menschen erklärten sich selbst zu Expert:innen, die aus einem angeblich demokratischen Impuls heraus gegen die «totalitären Ansprüche» von Wissenschaft und Politik aufbegehren. Ausgangspunkt für diese Haltung waren die als unzumutbar empfundenen staatlichen Maßnahmen, die sie in ihrer Freiheit unverhältnismäßig eingeschränkt haben. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben diese Haltung als libertären (freiheitlichen) Autoritarismus bezeichnet, der durch die Kränkung des Freiheitsgefühls entstanden ist. Die Autorität ist hier der Einzelne, der seine Freiheit absolut setzt und seine eigenen notwendigen gesellschaftlichen Abhängigkeiten und die Gefährdung vulnerabler Gruppen ausblendet. Im autoritären Nationalradikalismus und im libertären Autoritarismus treten zwei unterschiedliche Formen von

Autoritätsfixiertheit auf, wobei das Irritierende ist, dass die Libertären teilweise kein Problem damit haben, dass die Nationalradikalen auf dieselben Demonstrationen gehen und scheinbar zum Teil auch kein Problem damit, die AfD zu wählen. Auch an Waldorfschulen haben wir es mit beiden gesellschaftlichen Phänomen zu tun. Die libertären Autoritären haben die Maskenpflicht abgelehnt und zum Teil verweigert und die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zur Kenntnis genommen, als falsch bezeichnet oder ignoriert. Bei den dadurch entstandenen Problemen an den Schulen sind wir in einigen Fällen als Verein um Rat gefragt worden und haben entstehende Arbeitskreise unterstützt. Dabei zeigte sich in fast allen Fällen Unkenntnis darüber, wie frei Waldorfschulen eigentlich sind und welche Rolle die freiheitlich demokratische Grundordnung und das Schulgesetz spielen. Ein weiteres Missverständnis war und ist, dass Steiners Konzept der Dreigliederung nichts mit unserem politischen System zu tun habe und die Selbstverwaltung an Waldorfschulen die absolute Freiheit garantiere.

Selbstverwaltung und Freiheit

Die erste Waldorfschule ist 1919 im Rahmen der Dreigliederungsbewegung gegründet worden und etablierte die Selbstverwaltung, wobei Steiner in diesem Zusammenhang formulierte: «Dass Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muss, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben.» Der soziale Organismus sollte nach Steiner «wirtschaftlich sozial, staatlich demokratisch, geistig liberal ausgerichtet» sein, das heißt die drei Bereiche Wirtschaftsleben, Rechtsleben und Geistesleben sollten unterschieden werden. In der Selbstverwaltung befinden sich alle im Rechtsbereich. Auf die Schule mit ihren Entscheidungen, unter anderem auf die Schulleitungskonferenz bezogen, bedeutet das gleichberechtigte Kollegialität. Als es 1923 eines neuen Griffs in der Selbstverwaltung bedurfte und eine Gruppe aus dem Kollegium dazu etabliert wurde (Verwaltungsrat genannt), verwies Steiner darauf, dass in personellen Wechseln zu handeln sei, «damit nicht die republikanische Verfassung durchbrochen wird», die Aufgabengebiete klar formuliert werden, worauf es nach Aussprache zur Vertrauensfrage durch Abstimmung kam. Die Struktur der Selbstverwaltung der ersten Waldorfschule war geprägt von demokratischen Entscheidungsprozessen, an denen alle Lehrkräfte teilnahmen, wobei über das Verfahren wie auch über die abzustimmenden Inhalte ausführlich gesprochen wurde. Mehrheitsentscheidungen galten, sie waren verbindlich und bedeuteten das Ende der damit verbundenen Debatten. Sie spiegeln wider, was als Grundsatz des Rechtslebens formuliert wurde: kein Autoritarismus einer kleinen Gruppe oder einzelner. Für die pädagogischen Themen der Konferenzen gilt diese Vorgehensweise nicht. Einzelne Lehrkräfte tragen mit ihren Anliegen, Fragen und Einschätzungen zur inhaltlichen Auseinandersetzung bei und suchen nach Lösungen. Kritik kann aufkommen, aber der Entscheidungsprozess ist kein demokratisch mehrheitlicher, sondern ein Erkenntnisakt, der konkrete Inhalte, Methoden, die Persönlichkeiten der Schüler:innen mit ihren individuellen pädagogischen Aufgabenstellungen betrifft. Der anzutreffende Gestus entspricht den Grundzügen des freien Geisteslebens. Jede Waldorfschule hat einen Schulträger, einen eingetragenen Verein oder eine Genossenschaft. Die Rechtsform der Schulträger ist eine demokratische – keine autoritäre. Der Schulträger ermöglicht, dass Waldorfpädagogik praktiziert werden kann, wozu er die pädagogischen Fachkräfte sucht, er kann die Pädagogik selbst nicht umsetzen. Auch hier sind die Sphären des Rechts- und des Geisteslebens einerseits sachlich abzugrenzen, andererseits sind klare und verbindliche Formen der Zusammenarbeit angesagt. Die Mitwirkung der Eltern als Mitglieder des Schulträgers und als Erziehungspartner:innen spielt hierbei eine zentrale Rolle. Aus der oben zitierten Zukunftsvision ergibt sich, dass auch Schüler:innen zur Mitgestaltung ihrer Schule zu motivieren und zu unterstützen sind. Demokratie will eingeübt und praktiziert werden, gerade in dieser Zeit, welche leider zunehmend autoritäre und antidemokratische Erscheinungsformen aufweist.

Zum Problem des «autoritären Nationalradikalismus»

Anfang der 90er Jahre sahen sich die Waldorfschulen, die in den 70er und 80er Jahren eher als links-liberal und fortschrittlich wahrgenommen wurden – also im positiven Sinne als alternative Schulen – mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert, der letztlich zu der 2007 formulierten Stuttgarter Erklärung führte. Durch diesen Vorwurf wuchs die Sensibilität für rassistische, rechtsextreme Infiltrationen. 2015 wurde an einer deutschen Waldorfschule ein Lehrer mit Beziehungen ins rechtsextreme Milieu entdeckt, der als informeller Leiter der Schule angesehen

werden konnte. Seine politische Einstellung war über 20 Jahre nicht aufgefallen, da er sie nicht durch rechtsextreme Aussagen und undemokratische verfassungsfeindliche Thesen zum Ausdruck gebracht hat, sondern durch Vermeidung einer demokratischen Positionierung und Unterstützung intransparenter Personalentscheidungen, der Vermeidung von Wahlen und klar geregelter und abgestimmter Delegationen. Letztlich bestimmte dieser Lehrer, wer in die leitenden Gremien der Schule kam. Caroline Sommerfeld gehört zur rechtsextremen Identitären Bewegung und hat ein Buch mit dem Titel Wir erziehen geschrieben, indem sie die Waldorfschule für Menschen mit einer nationalistischen Haltung empfiehlt. Sie verwendet den Begriff «Ethnopluralismus», der von einer geschlossenen, ethnisch homogenen «europäischen» Kultur ausgeht, deren Identität vor allem von einer Islamisierung bedroht sei. Sie unterscheidet Abstammungsdeutsche von Passdeutschen und ist der Meinung, dass «größere Zahlen von Ausländern» – auch in zweiter und dritter Generation in Deutschland lebende Menschen – das Land verlassen müssen, um «das demographische Ende der Abstammungsdeutschen abzuwenden», bei dem das biologische Abstammungskonzept im Zentrum steht. Sommerfeld ist der Meinung, dass dieses Volks- und Abstammungskonzept «nahtlos» an Steiners «Volksseelenkonzept anschließbar» wäre, obwohl es schon viel älter sei und auf Hegels und Herders Begriff «Volksgeist» zurückgehe. Bei Hegel und Herder ist Volksgeist aber keine biologisch begründete Abstammungsgemeinschaft, sondern eine Gemeinschaft, die sich durch Sprache, Sitte, Verfassung, Religion definiert. Bei Hegel bestimmt der Geist das Bewusstsein und damit auch das Verhalten. Die nationalistischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts und dann vor allem der Nationalsozialismus haben «Volksgeist» in eine biologistische Kategorie umgewandelt. Angesichts der globalen und auf Völkerverständigung ausgerichteten Waldorfbewegung sind solche Positionen ebenso inakzeptabel wie Autoritätsstrukturen. Wir sollten uns dieser Bedrohung stellen, indem wir sie stärker thematisieren, um handlungsfähig zu werden. Das bedeutet, nach nicht sichtbaren autoritären Strukturen zu suchen, diese offenzulegen und neue, demokratische Lösungen zu diskutieren und zu finden, sowie gleichermaßen gemeinsam weitere Strategien zur Demokratiebildung zu entwickeln.

Die Autoren sind Mitglieder des Vereins Bildungseinrichtungen gegen Rechtsextremismus e.V.