Frank Steinwachs, Demokratie im Schulorganismus üben

Dez. 2023, https://www.erziehungskunst.de/artikel/demokratie-im-schulorganismus-ueben

Politische Bildung und Demokratieerziehung gehören zum Gründungsimpuls der Waldorfschule. Im Vordergrund steht dabei weniger das inhaltliche Lernen als vielmehr das Üben von Teilhabe und Verantwortung. Unser Gastautor Frank Steinwachs beschreibt, was das für Lehrende und Schüler:innen konkret bedeuten kann.

Als die erste Waldorfschule gegründet wurde, war ein Impuls derselben die kollegiale Selbstverwaltung (GA 300b, S. 235 ff.). Das markierte einen Paradigmenwechsel zur bisher direktorial und ministerial gelenkten Schule im Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik und ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zu den staatlichen Schulen. Unabhängig davon, dass Steiner in den Konferenzen immer wieder wichtiger Impulsgeber war und als Autorität Orientierung gab (GA 300a-c) – wodurch eine gewisse Asymmetrie entstand – war er doch auch Stifter einer neuen pädagogischen Idee, die vom Kollegium entwickelt wurde: Steiner gab Beispiele, Anregungen und formulierte Bedürfnisse oder transportierte Anfragen von Schüler:innen, die an ihn herangetragen wurden, in die Konferenzen. Allerdings setzte er sich nicht über Verabredungen hinweg – zumindest ist das nicht dokumentiert.
Zudem verwies Steiner im Januar 1921 kritisch auf das Problem einer «Kollegen-Cliquenbildung» (GA 300b, S. 237 f.), durch die sich Machtverhältnisse verschieben. Um dem zu begegnen, forderte er eine klare und transparente Aufgabenbeschreibung sowie Umsetzung derselben (GA 300b S. 242 ff.). Dass dies für die Beteiligten nicht unbedingt einfach war, zeigt unter anderem die Konferenz vom 23.01.1921 sowie die freundliche Formulierung von Tomáš Zdražils gegenüber der «besonderen Aufgabe» des ersten Stuttgarter Kollegiums, sich in die Selbstverwaltung «einzuleben» (Zdražil 2022, S. 21). Was sich allerdings nicht in den Konferenzen spiegelt, ist ein Bewusstsein für die Partizipation der Schüler:innen am Schulganzen. Mit Blick auf andere reformpädagogische Strömungen wäre das durchaus zeitgemäß gewesen, erschien 1916 doch John Deweys auch in Europa umfassend rezipiertes und diskutiertes Initialwerk zur Demokratieerziehung «Democracy and Education» (Konrad 2017, S. 158 ff.). Die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Ansätzen von Steiner und Dewey hat Jacque Ensign (1996), damals Doktorand an der Virginia University, in einem fiktiven, gelehrten Dialog zwischen den beiden Pädagogen und Philosophen herausgearbeitet. Diese geht stark von den Quellen aus und ist durchaus lesenswert.

 

Politische Bildung

Während politische Bildung im Kaiserreich noch die Aufgabe hatte, «Für Kaiser, Gott und Vaterland» zu unterrichten – oder mit anderen Worten: ein ideologischer Träger des Wilhelminismus zu sein –, begann trotz aller reaktionärer Beharrungskräfte in der Weimarer Republik neben der staatlichen und in Teilen auch gesellschaftlichen Demokratisierung der Aufbruch in die politische Bildung und Demokratiedidaktik. So wurde nach 1919 der staatsbürgerliche Unterricht eingeführt. Allein das «Zentralinstitut für Erziehung und Bildung» hatte zwischen 1923 und 1925 über 400 Fortbildungen zur politischen Bildung abgehalten und eine Vielzahl von Publikation entstanden zum Thema (Busch 2020, S. 29). Bei dieser Entwicklung aber ging die Waldorfpädagogik nicht mit, da sie ein anderes Konzept verfolgte. Die intensive Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft war Teil des Gründungsimpulses. Das Bestreben lag darin, den Heranwachsenden eine «Erziehung zur Freiheit» angedeihen zu lassen, und zwar durch einen neuen anthropologischen und methodischen Ansatz, nicht durch einen inhaltlichen.
Steiners Idee, der «Weltanschauungsschule» (staatliche Schule) eine «Methodenschule» entgegenzusetzen (GA 305, S. 155), war also der Versuch, neue freiheitliche Impulse durch seine neue pädagogische Idee in die Gesellschaft zu tragen und transformativ auf diese zu wirken. Mit anderen Worten: Die Waldorfpädagogik folgt dem Anspruch, ein Freiheitsimpuls zu sein. Damit lässt sich der Unterricht aber nicht von der jeweils aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation abkoppeln, im Gegenteil (Steinwachs 2023). Sie folgt dem, was unter dem Schlagwort «Erziehung zur Freiheit» firmiert und der Idee des «ethischen Individualismus» Steiners «Philosophie der Freiheit» entlehnt ist (Steiner GA 4, S. 160 f.; Dietz 2001). Dieses Konzept basiert unter anderem auf einer ethischen, freiheitlichen und politischen Bewusstseinsbildung, die im Dialog von ICH und DU beziehungsweise ICH und WELT im weitesten Sinne steht, über die Unterrichtsinhalte stattfindet und dadurch die Individuation und den ethischen Individualismus aus der Sache heraus entwickeln will. Aus Sicht der politischen Bildung hat Till Ungefug diesen Aspekt in gelungener Weise für den Sozialkundeunterricht (Oberstufe) an Waldorfschulen zusammengefasst und vor sechs Jahren ein zeitgemäßes und überzeugendes Konzept vorgelegt (Ungefug 2017) mit dem signifikanten Untertitel «Plädoyer für ein unentdecktes Kernfach der Waldorfpädagogik». Hier geht er dezidiert auf die Rolle des Politischen und des Alltagslernens in der Waldorfschule ein, was in den Schulen stärker diskutiert und konzeptionell ausgebaut werden sollte.

Üben von Partizipation 

Unabhängig davon, ob die ideale Situation einer «Erziehung zur Freiheit» von Seiten der Lehrer:innen methodisch gelingt und von Schüler:innen wie erhofft aufgenommen wird, können Demokratieerziehung und politische Bildung, die im Unterrichtsprozess aufgenommen werden, ebenso wie das Fach Sozialkunde einen Beitrag zur Entwicklung des hierfür notwendigen Handwerkszeugs leisten. Partizipative und impulsierende Methoden für die (spätere) Teilhabe der Heranwachsenden werden am gesellschaftlichen Diskurs entwickelt, reflektiert, neu gedacht und geübt. Damit ist dieser Teil des Unterrichts eine Brücke zwischen dem Ideal einer Erziehung zur Freiheit und dem einer Demokratieerziehung. Letztere folgt allerdings nicht einer Weltanschauung, sondern ist ein Üben von Partizipation, Übernahme von Verantwortung und Reflexion der politischen und gesellschaftlichen Situation – es handelt sich also um Skills für eine «Erziehung zur Freiheit».

Dazu gehört auf der einen Seite das konkrete Einbeziehen von Schüler:innen in eine entwicklungsgemäße, partizipative Verantwortung für den Schulorganismus und das Üben der damit verbundenen Fertigkeiten. Das beinhaltet Raum zu nehmen, Raum zu geben, diskursiv sein zu können und gemeinschaftliche Wege und Lösungen zu suchen und umzusetzen. Ebenso dazu gehört auch die Frage nach der Struktur des Schulganzen. Hier wird idealerweise das Miteinander von Eltern, Schüler:innen und Unterrichtenden bewusst und zukunftsorientiert gestaltet. Neben der Selbstverwaltung betrifft das besonders die innere Haltung aller beteiligten Menschen gegenüber einer in diesem Sinne inklusiven und eigenverantwortlichen Schulwirklichkeit. Den Erwachsenen, ob nun Eltern, Erziehungsberechtigten oder Lehrer:innen, obliegt es, die Teilhabe untereinander sowie für die heranwachsende Generation zu ermöglichen, eigene und pädagogisch begründete Erwartungen vorsichtig und später immer stärker loszulassen und die Ergebnisse auch dann zu ertragen, wenn andere Wege gegangen werden als ursprünglich gewünscht – was sicherlich nicht immer einfach ist. Damit kann natürlich nicht gemeint sein, dass jede Kleinigkeit basisdemokratisch abgestimmt wird und wir die Waldorfpädagogik einer infantilen Demokratisierung überantworten., Im Gegenteil: Als Erwachsene üben wir das Loslassen; Heranwachsende als die Generation, die Zukunft gestaltet, üben entwicklungsgemäß eine verantwortungsvolle Teilhabe an ihrem Lern- und Entwicklungsort.

Loslassen und Raum geben 

Wenn der Unterricht in der Klassenlehrerzeit von der «geliebten Autorität» ausgeht, dann wird sie im besten Fall so aussehen, wie es Walther Riethmüller (2016) beschrieben hat: als eine Form der Annahme eines und der Begegnung mit einem sich entwickelnden Ich, das Raum erhält und gleichzeitig durch eine dialogisch gestaltete Entwicklung zwischen den Unterrichtenden, den Unterrichtsinhalten und den Kindern begleitet wird. Autorität ist also eine Form der gegenseitigen Bildung, Begegnung und Loslösung, nicht aber ein Top-Down-Verhältnis. Letzteres würde zu einer Autorität durch Gewalt in verschiedenen Facetten führen (Kröner et al. 2019), wovor auch die Waldorfpädagogik nicht gefeit ist (Helsper et al. 2007, S. 92). Dieses ist ein strukturelles Phänomen und kann dann auftreten, wenn Schüler:innen eigene, von den Klassenlehrer:innen abweichende Wege suchen oder probieren, und sie durch den Autoritätsanspruch der Unterrichtenden «mit sanfter in ihrer Frage-, Zweifels-, Erklärungs- und Urteilskraft» gedämpft werden, so Horst Rumpf (Helsper 2007, S. 92). Das betrifft auch Autonomieschübe der Heranwachsenden, die sich wie im Rubikon oder in der Pubertät Bahn brechen. Dies fordert die verantwortlichen Pädagog:innen besonders, vor allem dann, wenn es darum geht, diese Prozesse nicht autoritativ zu gestalten, sondern dialogisch und stärkend.

Das Üben von Partizipation wird bereits in der Klassenlehrer:innenzeit angelegt und in der Oberstufe weiter differenziert, indem zunehmend Verantwortung übernommen und Folgen von Entscheidungen mitgetragen werden – im positiven wie im negativen. Das bedeutet nicht nur, dass die Schüler:innen an der Gestaltung des Schulorganismus beteiligt werden. Es bedeutet auch, dass sich die Unterrichtenden darin üben (dürfen), den Heranwachsenden immer mehr Raum zu geben, sich verantwortungsvoll einzubringen und Entscheidungen mitzutragen, im schlimmsten Fall auch zu ertragen. In einer de facto hierarchischen und «Partizipation behindernden Struktur» wie der Schule (Feichter 2019) – und das betrifft leider auch die Waldorfschulen – ist ein dialogisch-partizipatives Üben nicht unterkomplex: Lehrer:innen tragen eine gewichtige Mitverantwortung für das Gelingen der pädagogischen Arbeit und müssen sich gegenüber den Eltern sowie der Gesellschaft rechtfertigen. Und dann sollen sie auch noch gleichermaßen Teile ihres Verantwortungsbereiches in die Hände der Heranwachsenden und entwicklungsgemäß Übenden übergeben (Reisenauer 2020) – eine echte Herausforderung! Gerade in einer Zeit, da autoritatives und alternativloses Verhalten in Gesellschaft und Politik zunimmt und zu einem demokratiefernen Paradigmenwechsel zu werden droht (Schulze, Hüttig, Steinwachs 2023). Gerade deshalb scheint ein Fokus auf die übende Teilhabe der Heranwachsenden und das Loslassen der Unterrichtenden sowie der Eltern umso wichtiger.

Verzeichnis der zitierten Literatur 

Busch, Matthias: Demokratielernen in der Weimarer Republik. I: APuZ 14-15/2020.

Dietz, Karl-Martin: Freiheit oder Anpassung? Zur Aktualität des ethischen Individualismus. Heidelberg 2001.

Ensign, Jacque: A Conversation between John Dewey and Rudolf Steiner. A Comparison of Waldorf and Progressive Education. In: Educational Theory. Vol. 46, No. 2/1996.

Feichter, Helene J.: Die Grammatik der Schule als Partizipationshindernis. Organisationstheoretische und schulkulturelle Überlegungen. In:  Sabine Gerhartz-Reiter und Cathrin Reisenauer (Hrsg.): Partizipation und Schule. Perspektiven auf Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden 2020.

Helsper, Werner; Ullrich, Heiner; Stelmaszyk, Bernhard; Höblich, Davona; Graßhoff, Gunther; Jung, Dana: Autorität und Schule. Die empirische Rekonstruktion der Klassenlehrer-Schüler-Beziehung an Waldorfschulen. Wiesbaden 2007.

Konrad, Franz-Michael: John Dewey und die Progressiv Education in den US. In: Til-Sebastian Idel und Heiner Ullrich (Hrsg.): Handbuch Reformpädagogik. Weinheim Basel 2017.

Körner, Bruno; Lemme, Martin; Ofner, Stefan; von der Recke, Tobias; Seefeldt Claudia; Thelen, Herwig (Hrsg.): Neue Autorität. Das Handbuch Konzeptionelle Grundlagen, aktuelle Arbeitsfelder und neue Anwendungsgebiete. Göttingen 2019.

Reisenauer, Cathrin: Kinder- und Jugendpartizipation im schulischen Feld. Sieben Facetten eines vielversprechenden Begriffs. In: Sabine Gerhartz-Reiter und Cathrin Reisenauer (Hrsg.): Partizipation und Schule. Perspektiven auf Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden 2020.

Riethmüller, Walter: Professionstheoretische Überlegungen zum Beruf des Klassenlehrers. In: Jost Schieren (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven. Weinheim und Basel 2016.

Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Dornach 1973 (GA 4).

Steiner, Rudolf: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919–1924. 3 Bde. Basel 52019 (GA 300a-c).

Steiner, Rudolf: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Dornach 21979 (GA 305).

Steinwachs, Frank: Waldorfpädagogik – Mittendrin im Politischen! Eine Replik auf Bijan Kafi: ‚Diesseits des Politischen‘ in Die Drei 2/2023. In: Die Drei 4/2023,

Ungefug, Till: Perspektiven der Sozialkunde. Plädoyer für ein unentdecktes Kernfach der Waldorfpädagogik. Kassel 2017.

Zdražil, Tomáš: Rudolf Steiner und die Selbstverwaltung an der ersten Waldorfschule. In: Erziehungskunst 5/2022.

Malcherek, Martin; Hüttig, Albrecht; Schulze, Markus und Steinwachs, Frank: Autonomie statt Autoritarismus. In: Erziehungskunst 10/2023.